Konzert im Forum in Ludwigsburg Brüder im musikalischen Geiste

Von Gabriele Szczegulski
Das Stuttgarter Kammerorchester begeisterte im Forum Ludwigsburg mit Nirvana- und Purcell-Liedern. Countertenor Christopher Ainslie sang die Purcell-Kompositionen Foto: /Richard Dannenmann

Das Stuttgarter Kammerorchester sucht und findet im Forum Verbindungen zwischen Nirvana und Henry Purcell.

So weit entfernt und doch so nah: Das Stuttgarter Kammerorchester sucht – und findet – Verbindungen in der Musik von Nirvana und Henry Purcell am Donnerstag im Ludwigsburger Forum. Und: Es war kein typisches Cross-over-Konzert, in dem ein klassisches Orchester zeitgenössische Rockmusik nachspielt.

Es war viel, viel mehr: Das Stuttgarter Kammerorchester ließ die Kompositionen von Purcell und Kurt Cobain so ineinander fließen, dass es selbst Kenner beider Musiken schwer fiel, den Übergang zu definieren. Zudem betonten die Musiker in ihrer einzigartigen Demonstration genau die musikalischen Teile, die beide Musiker – trotz des zeitlichen Abstands von mehr als vier Jahrhunderten – verbinden. Denn: Purcell und Cobain waren Vorreiter in dem, was Musik ausdrücken kann.

Nirvana ist kein böhmisches Dorf

Als das Orchester mit der Ouvertüre in g-Moll von Purcell beginnt und Countertenor Christopher Ainslie dem Publikum die Variabilität seiner Stimme zeigt, ist eben dieses zuerst sprachlos: Nahtlos geht Purcell in Nirvanas „Something in the Way“ über. Da wird klar: Hier geht es nicht um Nachspielen, hier geht es darum, Ähnlichkeiten und Verbundenheiten zu zeigen – was gelingt und beiden Komponisten zur Ehre gereicht.

Dem Stuttgarter Kammerorchester, das von Cellist Nikolaus von Bülow geleitet wurde, gelingt auch, zu zeigen, welche begnadeten Komponisten nicht nur Purcell, sondern auch Cobain waren. Das überzeugt auch die im Publikum, die als Besucher eines klassischen Konzerts dies nicht annehmen wollten und denen Nirvana wahrscheinlich ein böhmisches Dorf war. In diesem Konzert geht es um Brüder im musikalischen Geiste.

Beide waren zu ihrer Zeit Kult: Henry Purcell war im 17. Jahrhundert englischer Hofkomponist. Richtig bekannt wurde der Musiker damit, dass er 1689 „Dido and Aeneas“ komponierte, die erste englische Oper.

Er wird als bekanntester Komponist der englischen Musikgeschichte angesehen und gilt als der repräsentativste Vertreter der Barockzeit Englands. Mit ausdrucksvoller Sprachvertonung und kalkuliertem Einsatz musikalischer Mittel erreichte er einen hohen Grad an Expressivität. Er verschmolz traditionelle Elemente der Satztechnik mit für seine Zeit modernen harmonischen Elementen.

Verzweiflung und Sehnsucht bei beiden Komponisten

Vor genau 30 Jahren nahm sich Kurt Cobain das Leben. War er bis dahin schon Ikone einer Generation, die gierig die neue Musik aufsog, wurde er nach seinem Tod zur Legende. Kurt Cobain und Nirvana erfanden in den 1990er-Jahren den Grunge. Grunge war die Antwort auf Rockmusik, die ihre ursprüngliche Kraft verloren hatte. Cobain war ein musikalisches Genie, doch in ihm steckte auch grenzenlose Trauer.

Und genau hier setzt die Interpretation des Stuttgarter Kammerorchesters an: Purcells und Nirvanas Songs haben eine Verzweiflung und Sehnsucht nach einer besseren Welt und nach persönlicher Erfüllung in sich. Besonders kommt dies im Konzert in Purcells „Cold Song“ und in „Come as You are“ von Cobain zum Ausdruck.

Im „Cold Song“ benützt Countertenor Ainslie die Kraft seiner Stimme dazu, zu demonstrieren, wie die Kälte des Winters durch die Macht der Liebe in Wärme verwandelt wird. Ainslies Lautmalerei an diesem Abend wärmte das Publikum.

Der Song „Come as You are“ vom Nirvana-Album „Nevermind“ stand immer im Schatten des Songs „Smells like Teen Spirit“, aber es hat mehr inhaltlich zu sagen, als der große Hit. Es ist eine großartige Komposition, in dem Cobain seine Stärke als Gitarrist beweist, was die Kammermusiker mit Riff-ähnlichem Zupfen der und Schlagen der Geigen, Anreißen der Saiten und einem Groove spielen, sodass sie danach erst mal ihre Instrumente wieder stimmen müssen.

„Come as you are“ wird oft als das Lied bezeichnet, das Cobains Zerrissenheit 1992, zwei Jahre vor seinem Tod, genau beschreibt. So wundert es nicht, dass auch die Biografie der Band diesen Titel trägt. Kurt Cobain beschrieb, dass es im Song „um Menschen und darum, wie sie sich verhalten sollen“ geht. Die Texte sind absichtlich voller Widersprüche und Verwirrung. Die Komposition begleitet diese Verwirrung und ist in der zeitgenössischen Musik ein Meisterwerk.

War Henry Purcell der Kurt Cobain des 17. Jahrhunderts?

Ein Meisterwerk, das sowohl Purcell als auch Cobain mehr als gerecht wurde, war das Konzert des Stuttgarter Kammerorchesters, das bewies, dass große Komponisten in allen Zeiten ähnliches bewegt und Ähnliches bewegen können und dadurch in ihrer Zeit neue Musik schaffen können.

Zudem wird durch dieses Konzert auch der zeitgenössischen Rockmusik und Nirvana nicht nur ein Denkmal gesetzt, sondern die Ehre zuerteilt, die ihnen gebührt. Genauso wie Henry Purcell aus der verstaubten Klassikschublade geholt wird und die These aufgestellt wird, dass er vielleicht der Kurt Cobain des 17. Jahrhunderts war.Gabriele Szczegulski

 
 
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